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Jahresrückblick 2022 – Teil 3: Arbeitszeiterfassung

Im Jahresrückblick 2022 stellen wir in sechs Teilen die Themen vor, die in ausgewählten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte im Jahr 2022 eine wichtige Rolle gespielt haben, und erläutern, welche Auswirkungen diese Entscheidungen für die Praxis haben. Im zweiten Teil unseres Jahresrückblicks geht es um das Thema Arbeitszeiterfassung.

Eines der meistdiskutierten Themen der letzten Jahre und insbesondere des Jahres 2022 im Arbeitsrecht war die Frage, welche Auswirkungen die Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung aus dem Jahr 2019 (Az.: C-66/18 – [CCOO]) auf das deutsche Arbeitsrecht hat. Der EuGH hatte entschieden, dass aus der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) und dem zugrunde liegenden Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) eine Pflicht der Mitgliedstaaten folge, Arbeitgeber*innen zu verpflichten, die Arbeitszeit aller Arbeitnehmer*innen aufzuzeichnen. Auf eine Reaktion des deutschen Gesetzgebers war seit dem Urteil des EuGH gespannt (aber bisher vergeblich) gewartet worden.

Pflicht zur Einrichtung eines geeigneten Systems zur Arbeitszeiterfassung

Für großes mediales Aufsehen sorgte im letzten Jahr dann ein Beschluss des BAG vom 13. September 2022 (Az.: 1 ABR 22/21). Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) seien Arbeitgeber bereits jetzt gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Das BAG ist mit dieser Entscheidung dem Gesetzgeber nun zuvorgekommen.

Eingekleidet war der Fall in eine Streitigkeit zwischen zwei Arbeitgeberinnen eines gemeinsamen Betriebs und dem dortigen Betriebsrat. Der Betriebsrat wollte bestätigt wissen, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) zustehe. Der Betriebsrat unterlag jedoch. Ein solches Initiativrecht stehe dem Betriebsrat nicht zu, weil Arbeitgeber ohnehin bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet seien, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Ob dies elektronisch oder auf anderem Wege geschehe, könne allein der Arbeitgeber entscheiden.

Eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung könne mangels direkter Wirkung der Vorschrift nicht unmittelbar aus Art. 31 Abs. 2 GrCh folgen. Auch eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 16 Abs. 2 Satz 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) dahingehend, dass nicht nur Überstunden, sondern die gesamte Arbeitszeit aufgezeichnet werden müsse, scheitere am eindeutigen Wortlaut („über … hinausgehend“). Die Pflicht folge vielmehr aus der unionsrechtskonformen Auslegung der (sehr) generellen Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Das ArbZG sei nicht abschließend in Bezug auf Arbeitsschutzmaßnahmen zur zeitlichen Eindämmung der Arbeit (vgl. a.A. Höpfner/Schneck, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 2023, 1, 4 f.).

Bis der Gesetzgeber (endlich) aktiv wird, gelten nun zunächst die vom BAG entwickelten Grundsätze. Daher müssen Arbeitgeber die Arbeitszeit aller Arbeitnehmer*innen in geeigneter Weise aufzeichnen. Welches Mittel sie hierfür wählen (Stempelkarten, elektronische Stempel, Excel-Tabelle etc.), können diese selbst (unter Berücksichtigung von Mitbestimmungsrechten, insbesondere aus § 87 Abs. 1 Nr. 6, 7 BetrVG) entscheiden, solange das System zur Zeiterfassung im konkreten Betrieb geeignet ist. Liegt beispielsweise eine Liste an der Betriebsstätte aus, in die sich Arbeitnehmer*innen eintragen müssen, arbeiten diese aber vorwiegend aus dem Home-Office, dürfte dies kein geeignetes Arbeitszeiterfassungssystem sein. Möglich ist nach Auffassung des Bundesministerium für Arbeit und Soziales auch die Delegation an die Arbeitnehmer*innen, wobei der Arbeitgeber für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften des ArbSchG verantwortlich bleibt. Arbeitgeber sollten die Erfassung daher regelmäßig kontrollieren (https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Arbeitsrecht/Arbeitnehmerrechte/Arbeitszeitschutz/Fragen-und-Antworten/faq-arbeitszeiterfassung.html).

Ob die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auch für leitende Angestellte gilt, für die zwar die Arbeitszeitrichtlinie und das ArbZG Ausnahmen vorsehen, die aber vollständig vom ArbSchG, aus dem das BAG die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung herleitet, erfasst sind, musste das BAG nicht entscheiden. Der Fall spielte im Betriebsverfassungsrecht und der Betriebsrat repräsentiert leitende Angestellte nicht (§ 5 Abs. 3 Satz 1 BetrVG). Richtigerweise kann die unionsrechtskonforme Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG nicht weiter gehen, als das Unionsrecht zwingend gebietet, sodass leitende Angestellte nicht erfasst sein sollten. Entwarnung kann hier bis zur Klärung durch den Gesetzgeber oder das BAG allerdings nicht gegeben werden.

Keine Auswirkung auf die Beweislast im Überstundenvergütungsprozess

Einige Monate zuvor befasste sich das BAG mit der Frage, ob die Entscheidung des EuGH (Az.: C-55/18 – [CCOO]) Auswirkungen auf die Beweislast im Überstundenvergütungsprozess hat.

Im Prozess vor den Arbeitsgerichten muss grundsätzlich jede Partei die für sie günstigen Tatsachen darlegen und beweisen. Nach diesem Grundsatz müssen somit Arbeitnehmer*innen im Überstundenvergütungsprozess darlegen und beweisen, dass sie auf Weisung des Arbeitgebers hin, bzw. durch diesen gebilligt, tatsächlich Überstunden geleistet haben. Erst wenn dies plausibel dargelegt ist, müssen Arbeitgeber nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungslast substantiiert dazu vortragen, welche Überstunden sie veranlasst haben und welche nicht.

Im vorliegenden Fall war zwischen den Parteien streitig, ob der Arbeitnehmer in der dokumentierten Arbeitszeit Pausen genommen hatte oder ihm dies nicht möglich war. Das BAG entschied mit Urteil vom 4. Mai 2022 (Az.: 5 AZR 359/21), dass auch die Entscheidung des EuGH an der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess nichts ändert, der Arbeitnehmer die Überstunden also hätte beweisen müssen. Die Entscheidung des EuGH sei zur Arbeitszeiterfassung im Sinne des Arbeitsschutzes ergangen. Diese habe keine Auswirkungen auf vergütungsrechtliche Fragen der Arbeitszeit.

Diese Argumentation des BAG lässt sich ebenso auf die Entscheidung des ersten Senats vom 13. September 2022 übertragen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass auch die Entscheidung des BAG vom 13. September 2022 nichts an den Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess ändert.

Praxishinweise:

  • Im Rahmen der arbeitsrechtlichen Compliance spielt in Zukunft die Aufzeichnung der Arbeitszeit eine maßgebliche Rolle. Bis zur Regelung durch den Gesetzgeber sind Arbeitgeber verpflichtet, mittels eines geeigneten Systems Beginn und Ende der Arbeitszeit aller Arbeitnehmer*innen sowie Pausen und Überstunden aufzuzeichnen.
  • Offen ist bislang, ob dies gleichermaßen für die Arbeitszeit von leitenden Angestellten gilt. Hier muss auf Klärung durch den Gesetzgeber gewartet werden.
  • Allerdings drohen bei fehlender Aufzeichnung der Arbeitszeit (abgesehen von der Aufzeichnung von Überstunden, §§ 16 Abs. 2, 22 ArbZG) keine unmittelbaren Sanktionen. Vielmehr müsste zunächst die zuständige Landesbehörde für Arbeitsschutz die Arbeitszeiterfassung anordnen (§ 22 Abs. 3 Nr. 1 ArbSchG). Nur wer eine solche Anordnung missachtet, riskiert ein Bußgeld von bis zu EUR 30.000 (§ 25 Abs. 1 Nr. 2 lit. a ArbSchG).
  • Keine Auswirkung hat die Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit wohl auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess. Es bleiben hohe Hürden, die Arbeitnehmer*innen nehmen müssen, um solche Prozesse zu gewinnen.

Entscheidungen:

  • BAG, Beschluss vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21
  • BAG, Urteil vom 4. Mai 2022 – 5 AZR 359/21