Das BAG hat in einer kürzlich im Volltext veröffentlichten Entscheidung (vom 26. Juni 2023 – 5 AZR 335/22) und einer taufrischen Entscheidung, zu der bislang nur eine Pressemitteilung vorliegt (vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23), die Anforderungen an Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bzw. die Erschütterung des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen präzisiert. Bestimmte Verstöße gegen die Vorgaben zur standesgemäßen Erstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und der zeitliche Zusammenhang mit der Kündigungsfrist können den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttern.
Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau für die Dauer der Kündigungsfrist kann deren Beweiswert erschüttern
Besondere Relevanz für die Praxis hat die Entscheidung des BAG vom heutigen 13. Dezember 2023. Schon 2021 hatte das BAG entschieden (Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21), dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis (selbst) kündigt, am Tag der Kündigung vorlegt, insbesondere dann erschüttert sein kann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst. Im nun vorliegenden Fall hatte der Arbeitnehmer am 2. Mai 2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis einschließlich 6. Mai 2022 vorgelegt. Der Arbeitgeber kündigte mit Schreiben vom 2. Mai 2022, zugegangen am 3. Mai 2022 das Arbeitsverhältnis. Daraufhin legte der Arbeitnehmer weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, die die Kündigungsfrist passgenau umfassten. Nach Ablauf der Kündigungsfrist begann er nahtlos bei einem neuen Arbeitgeber zu arbeiten.
Das BAG stellt zunächst fest, dass die Rechtsprechung zur Arbeitsunfähigkeit im Zusammenhang mit der Eigenkündigung, auf eine Kündigung durch den Arbeitgeber ohne weiteres zu übertragen ist. Anders als das LAG Niedersachsen in der Vorinstanz (Urteil vom 8. März 2023 – 8 Sa 859/22, wir berichteten https://wittek.law/beweiswert-einer-arbeitsunfaehigkeitsbescheinigung-im-zusammenhang-mit-kuendigung) sah das BAG den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab dem 7. Mai 2022 als erschüttert an. Das LAG Niedersachsen hatte dies ausgeschlossen, weil die erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor Erhalt der Kündigung vorgelegt wurde. Das BAG legt nun –überzeugend – den Fokus auf die Tatsache, dass die folgenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, also die ab dem 7. Mai 2022 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die Kündigungsfrist genau umfassten und der Arbeitnehmer danach wieder vollständig genesen war.
Damit ist natürlich noch nicht abschließend entschieden, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung für diesen Zeitraum hat. Ihn trifft nun aber die volle Darlegung- und Beweislast hierzu. Der Arbeitnehmer kann bspw. seine Ärzte von der Schweigepflicht entbinden und als Zeugen benennen. Sollte er tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt gewesen sein, dürfte ihm der Beweis dessen noch gelingen. Damit geht das BAG einen überzeugenden Weg und setzt der Praxis vieler Arbeitsgerichte, sich auch bei zeitlichem Zusammenhang mit der Kündigung voll und ganz auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu verlassen und von einer weitergehenden Beweisaufnahme Abstand zu nehmen, (hoffentlich) ein Ende.
Verstöße gegen Arbeitsunfähigkeits-RL können Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttern
In der kürzlich im Volltext veröffentlichten Entscheidung vom 26. Juni 2023 (5 AZR 335/22) hatte der Arbeitnehmer nach Erhalt der Kündigung noch wenige Tage weitergearbeitet und dann eine erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Dauer von zwei Wochen vorgelegt und nach deren Ablauf eine weitere Bescheinigung für die restlichen 9 Tage bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens hatte der Arbeitnehmer die vollständige Ausfertigung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung inklusive Diagnose vorgelegt.
Der Arbeitgeber rügte, dass in der zweiten Bescheinigung weiterhin (u.a.) Schulterschmerzen als Grund für die Arbeitsunfähigkeit angegeben seien, obwohl nach § 5 Abs. 1 Satz 5 (damals noch Satz 4) der „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V“ (Arbeitsunfähigkeits-RL) Symptome nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen sind.
Die Arbeitsunfähigkeits-RL, die vom obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, dem gemeinsamen Bundesausschuss, erlassen wird ist gemäß § 91 Abs. 6 SGB V insbesondere für die Krankenkassen, die Versicherten und die Leistungserbringer verbindlich. Verbindliche Vorschriften im Verhältnis Arbeitgeber zum Arbeitnehmer schafft die Arbeitsunfähigkeits-RL nach Ansicht des BAG allerdings nicht.
Nichtsdestotrotz enthalte die Arbeitsunfähigkeits-RL aber allgemeine medizinische Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, sodass die Verstöße hiergegen geeignet sein können, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Das gilt nach Ansicht des BAG allerdings nicht für Vorschriften der Arbeitsunfähigkeits-RL, die bloß das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen. Bedeutung misst das BAG daher insbesondere Verstößen gegen § 4 (Verfahren zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit) und § 5 (Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit) der Arbeitsunfähigkeits-RL bei.
Im vorliegenden Fall lag ein solcher aber nicht vor, da der Diagnoseschlüssel beider Bescheinigungen durchaus als eine Diagnose verstanden werden könne, die über die bloße Symptombeschreibung hinausgehe. Dies stützte das Gericht im Wesentlichen auf die Systematik des Diagnoseschlüssel-Systems ICD-10.
Beachtlich ist auch, dass das BAG – anders als in der oben dargestellten Entscheidung vom 13. Dezember 2023 – der Ansicht war, dass ein Zusammenhang zwischen der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist vorliegend in der Gesamtabwägung zum Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht zu berücksichtigen war. Der Arbeitnehmer habe nach Erhalt der Kündigung noch wenige Tage weitergearbeitet, sodass ein entsprechender Zusammenhang nicht bestehe.
Praxishinweise:
- Die Entscheidungen zeigen erneut, wie aktuell die Thematik rund um die Arbeitsunfähigkeit im Zusammenhang mit der Kündigung ist. Für die Frage der Erschütterung des Beweiswertes sind Nuancen entscheidend. Zu begrüßen ist die Tendenz, von einer genaueren Beweisaufnahme im Einzelfall nicht pauschal Abstand zu nehmen, wenn Anhaltspunkte dafür im Raum stehen, dass eine Arbeitsunfähigkeit tatsächlich nicht bestand.
- Bestehen Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers, obwohl dieser eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt hat, sollte der Arbeitgeber die Umstände im Einzelfall genau prüfen bzw. prüfen lassen. Gerne beraten wir Sie hierzu.
Entscheidungen:
- BAG, Urteil vom 26. Juni 2023 – 5 AZR 335/22
- BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 (Pressemitteilung)