Das Arbeitsrecht ist – im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten – besonders geprägt von der Rechtsprechung, allen voran auf nationaler Ebene der des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und auf europäischer Ebene der des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Das „Richterrecht“ spielt im Arbeitsrecht eine hervorgehobene Rolle und sollte daher von allen arbeitsrechtlichen Entscheidern stets verfolgt werden. Auch im Jahr 2023 hat das Bundesarbeitsgericht wichtige Entscheidungen getroffen, die zum Teil auch in den Medien kontrovers diskutiert wurden. Wir fassen die bedeutendsten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts des Jahres 2023 nachstehend in unserem Jahresrückblick für Sie zusammen.
Urlaubsabgeltungsanspruch unterliegt der Verjährung
Der Verfall und die Verjährung von Urlaubsansprüchen im laufenden Arbeitsverhältnis standen schon 2022 – angetrieben von Entscheidungen des EuGH – im Fokus des obersten deutschen Arbeitsgerichts (wir berichteten in unserem Jahresrückblick 2022 https://wittek.law/jahresrueckblick-2022-teil-6-verjaehrung-und-verfall-von-urlaubsanspruechen). Im Januar 2023 beschäftigte sich das BAG vor diesem Hintergrund mit der Verjährung des Urlaubsabgeltungsanspruchs nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Urteil vom 31. Januar 2023 – 9 AZR 456/20).
Im laufenden Arbeitsverhältnis verfallen Urlaubsansprüche nur, wenn der Arbeitgeber die Arbeitnehmer*innen schon frühzeitig im laufenden Jahr dazu auffordert, Urlaub zu nehmen. Dasselbe gilt für die Verjährung des Urlaubsanspruchs im laufenden Arbeitsverhältnis. Anders beurteilt das BAG dagegen die Verjährung des Urlaubsabgeltungsanspruchs. Endet das Arbeitsverhältnis, wird aus dem Anspruch auf Urlaub als bezahlte Freizeit (Erholung), ein einfacher Zahlungsanspruch (Abgeltungsanspruch). Der Verfall und die Verjährung des Abgeltungsanspruchs unterliegen (daher) nicht denselben strengen Voraussetzungen wie beim Urlaubsanspruch im laufenden Arbeitsverhältnis. Der Abgeltungsanspruch verjährt üblicherweise nach der Regelverjährungsfrist (drei Jahre). Im selben Zuge stellt das BAG auch klar, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung einer tariflichen Ausschlussfrist unterliegt. Dasselbe muss denklogisch bei wirksamen vertraglichen Ausschlussfristen gelten.
Equal-Pay-Grundsatz gestärkt
Besondere mediale Aufmerksamkeit erlangte eine Entscheidung des BAG im Februar 2023 (Urteil vom 16. Februar 2023 – 8 AZR 450/21). Das BAG hat hierin die Durchsetzung des Equal-Pay-Grundsatzes erleichtert.
Die Verpflichtung zur gleichen Vergütung gleicher Arbeit sowie das Verbot geschlechtsbezogener Diskriminierung sind längst geltendes Recht. Sofern eine unterschiedliche Bezahlung zwischen vergleichbaren Arbeitnehmer*innen unterschiedlicher Geschlechter vorliegt, wird vermutet, dass dies eine unmittelbare Benachteiligung allein aufgrund des Geschlechtes darstellt. Nach § 22 AGG muss dann der Arbeitgeber beweisen, dass die Ungleichbehandlung ausschließlich andere, sachliche Gründe hatte.
Bislang wurde – zumindest nach der Vorinstanz – schon das Verhandlungsgeschick eines Kollegen anderen Geschlechts als Rechtfertigung einer unterschiedlichen Bezahlung angesehen. Diesen Vortrag ließ das BAG nicht genügen. Die Vermutung der Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts konnte der verklagte Arbeitgeber mit der Begründung, die vergleichbaren Kollegen hätten besser verhandelt, nicht ausräumen. Man wird daher in Zukunft wohl jedenfalls verlangen müssen, dass der Arbeitgeber plausibel darlegt, dass er die Stelle nicht anders hätte besetzen können, bevor er sich auf höhere Gehaltsforderungen einlässt.
Kein Verwertungsverbot bei Videoüberwachung und Straftat
In einer Entscheidung aus dem Juni 2023 hat sich das BAG zur Verwertung von Aufnahmen aus offener Videoüberwachung im Kündigungsschutzprozess geäußert. Das BAG (Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22) entschied, dass grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf Aufzeichnungen einer offenen Videoüberwachung besteht, die vorsätzliche Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers belegen sollen.
Im dem entschiedenen Fall war ein Arbeitnehmer zwar morgens zur Arbeit erschienen, die auf einen anonymen Hinweis erfolgte Auswertung der Kameraaufzeichnungen am Werkstor zeigten aber, dass der Arbeitnehmer das Gelände vor Schichtbeginn wieder verlassen hatte. Der Arbeitgeber ging davon aus, der Arbeitnehmer habe damit einen Arbeitszeitbetrug begangen. Die Kamera war am Werkstor entsprechend gekennzeichnet und ohne weiteres erkennbar.
Das BAG entscheid, dass jedenfalls im Falle einer vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung und der offenen Videoüberwachung, der Arbeitnehmer regelmäßig nicht schutzwürdig sei, ein Verwertungsverbot daher selbst dann nicht gegeben sei, wenn die Videoüberwachung nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht. Die prozessualen Vorschriften rechtfertigten in diesem Fall eine Verwertung der Daten im Kündigungsschutzprozess.
Keine Vertraulichkeit bei Hass und Hetze auf WhatsApp
Aufmerksamkeit auch außerhalb juristischer Kreise erlangte eine Entscheidung des BAG (Urteil vom 24. August 2023 – 2 AZR 17/23) zur Vertraulichkeitserwartung bei Beleidigungen des Vorgesetzten in einer privaten WhatsApp-Gruppe mit Kollegen.
Zugrunde lag ein Fall, in dem sich mehrere Mitglieder einer WhatsApp-Gruppe unter Kollegen menschenverachten, frauenfeindlich und rassistisch und unter Ankündigung von Gewalt über Vorgesetzte ausgelassen hatten. Die (öffentliche) Beleidigung eines Vorgesetzten ist zwar grundsätzlich ein Paradebeispiel für eine außerordentliche Kündigung, unklar war aber bislang, wie die Beleidung von Vorgesetzten in einer privaten geschlossenen WhatsApp-Gruppe unter Kollegen zu beurteilen ist. Arbeitsgerichte waren bisher überwiegen davon ausgegangen, dass diese Kommunikation – vergleichbar mit einem vertraulichen Gespräch unter Kollegen – vertraulich ist und die Arbeitnehmer hierauf auch vertrauen dürften (z.B. ArbG Mainz, Urteil vom 15. November 2017 – 4 Ca 1240/17). Dem trat nun das BAG entgegen. Die Erwartung der Vertraulichkeit müsse besonders dargelegt werden und folge nicht allein daraus, dass es sich um eine private WhatsApp-Gruppe unter Kollegen handele.
Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Ein Dauerbrenner des Jahres 2023 – sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Beratungspraxis – war die Frage des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Zunächst hatte das BAG entschieden (Urteil vom 26. Juni 2023 – 5 AZR 335/22), dass gewisse Verstöße gegen die „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V“ (Arbeitsunfähigkeits-RL) bei der Erstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Arzt/die Ärztin geeignet sein können, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Das gilt nach Ansicht des BAG allerdings nicht für Vorschriften der Arbeitsunfähigkeits-RL, die bloß das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen. Bedeutung misst das BAG daher insbesondere Verstößen gegen § 4 (Verfahren zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit) und § 5 (Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit) der Arbeitsunfähigkeits-RL bei.
Im Dezember folgte dann eine Entscheidung mit enormer Praxisrelevanz. Das BAG entschied (Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23), dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die nach der Kündigung durch den Arbeitgeber vorgelegt wird, erschüttert sein kann, wenn die Bescheinigung (ggf. in Kombination mit Folgebescheinigungen) die Kündigungsfrist genau umfasst und der Arbeitnehmer unmittelbar danach vermeintlich wieder arbeitsfähig ist. In einem solchen Fall muss der Arbeitnehmer, bspw. durch Entbindung der Ärzte und Ärztinnen von der Schweigepflicht und Benennung als Zeugen, beweisen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig war.
Neues zum Massenentlassungsverfahren
Das BAG beendete das Jahr 2023 mit einem „Knall“. Der Sechste Senat des BAG (Beschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B) u.a.) erwägt – in Folge einer Entscheidung des EuGH zu den Konsequenzen für Fehler im Massenentlassungsverfahren (wir berichteten https://wittek.law/neues-zum-massenentlassungsverfahren-eugh-verneint-individualschutz-der-uebermittlung-der-betriebsratsmitteilung-an-die-agentur-fuer-arbeit) – die bisherige Rechtsprechung zu Fehlern im Massenentlassungsverfahren gänzlich auf den Kopf zu stellen.
Bis dato stand das BAG auf dem strickten Standpunkt, dass jeder Fehler im Massenentlassungsverfahren zur Unwirksamkeit der Kündigungen nach § 134 BGB führe, weil das Massenentlassungsverfahren als solches (zumindest auch) die Arbeitnehmer individuell schütze. Nun will der Sechste Senat des BAG diese Rechtsprechung ändern, soweit die Fehler (nur) Anzeigen bei der Agentur für Arbeit betreffen. Der Sechste Senat hat daher beim Zweiten Senat angefragt, ob dieser der Änderung der Rechtsprechung zustimmt. Sollte dieser die Änderung dagegen ablehnen, müsste der Große Senat des BAG entscheiden. Die Frage der Fehlerfolgen im Massenentlassungsverfahren dürfte daher auch im kommenden Jahr mindestens noch einmal für Schlagzeilen sorgen.
Wir wünschen allen Lesern und Leserinnen ein frohes neues Jahr!
Entscheidungen:
- BAG, Urteil vom 31. Januar 2023 – 9 AZR 456/20
- BAG, Urteil vom 16. Februar 2023 – 8 AZR 450/21
- BAG, Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22
- BAG, Urteil vom 24. August 2023 – 2 AZR 17/23
- BAG, Urteil vom 26. Juni 2023 – 5 AZR 335/22
- BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23
- BAG, Vorlagebeschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B), 6 AZR 155/21 (B),
6 AZR 121/22 (B)