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Jahresrückblick 2022 – Teil 6: Verjährung und Verfall von Urlaubsansprüchen

Im Jahresrückblick 2022 stellen wir in sechs Teilen die Themen vor, die in ausgewählten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte im Jahr 2022 eine wichtige Rolle gespielt haben, und erläutern, welche Auswirkungen diese Entscheidungen für die Praxis haben. Im letzten Teil unseres Jahresrückblicks geht es um das Thema Urlaubsrecht.

Das Rechtsprechungsjahr 2022 ging mit einigen folgenreichen Entscheidungen des BAG zur Verjährung und zum Verfall von Urlaubsansprüchen zu Ende, die für großes Aufsehen gesorgt haben. Während die vertragliche Gestaltung von Urlaubsansprüchen, die über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehen, recht einschränkungslos möglich ist, unterliegt der gesetzliche Mindesturlaub zahlreichen zwingenden bundesrechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben. Gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) haben Arbeitnehmer*innen gemessen an einer Sechs-Tage-Woche jährlich Anspruch auf mindestens 24 Werktage Urlaub. Das entspricht vier Wochen. Dieser Anspruch geht zurück auf Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeit-RL) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh). Die Rechtsprechung des EuGH prägt das deutsche Urlaubsrecht trotz der sehr knappen Formulierung der unionsrechtlichen Vorschriften seit Jahren maßgeblich.

Urlaub verfällt nur, wenn er tatsächlich hätte genommen werden können und der Arbeitgeber seinen Hinweispflichten nachkommt

Der gesetzliche Urlaub muss grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr genommen werden (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BurlG). Eine Übertragung auf das folgende Jahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche (z.B. enorm hoher Krankenstand, besonders hohe Auftragslage etc.) oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe (z.B. langandauernde Krankheit des Arbeitnehmers) dies rechtfertigen (§ 7 Abs. 3 Satz 2 BurlG). Gesetzlicher Urlaub, der in das folgende Jahr übertragen wird, muss grundsätzlich in den ersten drei Monaten des Folgejahres (d.h. bis zum 31. März) genommen werden, andernfalls verfällt er (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BurlG). Er verfällt aber nach richtlinienkonformer Auslegung nur, wenn der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür gesorgt hat, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Er muss die Arbeitnehmer*innen – im Zweifel förmlich – dazu auffordern, den Urlaub zu nehmen, und klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn er nicht genommen wird (BAG, Urteil vom 19. Februar 2019 – 9 AZR 541/15).

Verfall von Urlaub aus gesundheitlichen Gründen

Sind Arbeitnehmer*innen aufgrund von Krankheit arbeitsunfähig, können sie keinen Erholungsurlaub nehmen, weil der Zweck des Urlaubs (Erholung) nicht erfüllt werden kann. Grundsätzlich verfällt der Urlaub auch dann nach dem 31. März des Folgejahres, wenn er aus gesundheitlichen Gründen nicht genommen werden kann. Ist es einem Arbeitnehmer allerdings deshalb unmöglich, den Urlaub in Anspruch zu nehmen, weil er/sie bis zum Jahresende bzw. zum Ende des Übertragungszeitraums krank ist, erlischt der Anspruch nach europarechtskonformer Auslegung des § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG erst 15 Monate nach Ende des Jahres (BAG, Urteil vom 7. August 2012 – 9 AZR 353/10).

Im ersten aktuellen Fall zum Urlaubsrecht entschied das BAG am 20. Dezember 2022 (Az.: 9 AZR 245/19) in Umsetzung eines Urteils des EuGH (vom 22. September 2022 – C-518/20), dass der Urlaub eines Jahres, in dem ein Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, also nicht durchgehend arbeitsunfähig war, regelmäßig nur dann nach 15 Monaten verfalle, wenn der Arbeitgeber seine Hinweisobliegenheiten nachgekommen ist. In dem Fall war ein Arbeitnehmer von Dezember 2014 bis 2019 arbeitsunfähig. Im Jahr 2014 hatte er noch (Rest-)Urlaubstage. Der Arbeitgeber hatte den Arbeitnehmer hierauf im Jahr 2014 nicht ausdrücklich hingewiesen. Die Resturlaubstage sind somit nach Ansicht des EuGH und des BAG nicht nach 15 Monaten verfallen, weil nicht allein die Arbeitsunfähigkeit, sondern auch die mangelnde Mitwirkung des Arbeitgebers dafür ursächlich gewesen sind, dass der Urlaub nicht genommen worden sei. Urlaubsanspruch, der erst während der Arbeitsunfähigkeit entsteht, verfällt dagegen ohne Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers nach Ablauf der 15-Monats-Frist.

Urlaubsanspruch verjährt bei mangelnder Mitwirkung des Arbeitgebers auch nicht

Mit Urteil vom selben Tag setzt das BAG (9 AZR 266/20) eine weitere Entscheidung des EuGH (Urteil vom 22. September 2022 – C-120/21) um. Eine Arbeitnehmerin, die über 20 Jahre bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt war, verlangte nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Abgeltung zahlreicher Urlaubstage aus ihrer langjährigen Beschäftigungszeit. Der Arbeitgeber war der Ansicht, diese seien zumindest verjährt. EuGH und BAG sind anderer Ansicht. Beruht das Offenbleiben von Urlaubsansprüchen – zumindest auch – auf Versäumnissen des Arbeitgebers, tritt der Zweck der Verjährungsvorschriften, Rechtssicherheit zu schaffen, hinter dem Zweck der Urlaubsansprüche zurück. Kurz gesagt: Der Urlaubsanspruch verjährt nicht.

Verjährung tritt nur ein, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweisobliegenheiten nachkommt. In diesem Fall tritt allerdings schon vor Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist ohnehin der Verfall nach § 7 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 BUrlG ein.

Praxishinweise:

  • Arbeitgeber sind gehalten, die Arbeitnehmer*innen schon frühzeitig im laufenden Jahr dazu aufzufordern, Urlaub zu nehmen. Wird ein Arbeitnehmer für das restliche Jahr und den Übertragungszeitraum krank, erlischt der Urlaubsanspruch andernfalls auch nach 15 Monaten nicht.
  • Arbeitgeber sollten gut dokumentieren, dass sie die Arbeitnehmer*innen jedes Jahr auffordern, den Urlaub zu nehmen. Andernfalls verfällt der Urlaubsanspruch nicht nur nicht, sondern er verjährt auch nicht. Ferner drohen bei der Beendigung langjähriger Arbeitsverhältnisse erhebliche Nachzahlungen für nicht gewährten Urlaub in vergangenen Jahren.
  • Die Sorge von Arbeitgebern, dass auch Beschäftigte, die schon lange nicht mehr angestellt sind, auf die Idee kommen könnten, Abgeltung von Urlaubsansprüchen geltend zu machen, ist allerdings unbegründet. Das BAG entschied kürzlich (Urteil vom 31. Januar 2023 – 9 AZR 456/20), dass der Abgeltungsanspruch, der mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses entsteht, ein eigenständiger Anspruch ist, welcher anders als der Urlaubsanspruch der Regelverjährung unterliegt.

Entscheidungen:

  • BAG, Urteil vom 20. Dezember 2022, 9 AZR 245/19 (bisher liegt nur die Pressemitteilung vor)
  • BAG, Urteil vom 20. Dezember 2022, 9 AZR 266/20 (bisher liegt nur die Pressemitteilung vor)