Du betrachtest gerade BAG setzt Verfahren über Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren aus: Steht das Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren vor einer grundlegenden Wende?

BAG setzt Verfahren über Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren aus: Steht das Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren vor einer grundlegenden Wende?

Das BAG hat im Mai ein Verfahren ausgesetzt (BAG, 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22 (A)), in dem es um die fehlerhafte Berechnung der Betriebsgröße im Rahmen des Massenentlassungsanzeigeverfahrens ging, um auf eine Antwort des EuGH auf eine Vorabentscheidungsanfrage aus dem Januar 2022 (BAG, 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21 (A)) zu warten. Diese könnte das gesamte Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren auf den Kopf stellen.

In dem Fall, den das BAG zu entscheiden hat, war der Kläger bei einem Großhandels- und Wartungsunternehmen tätig, das bis September 2020 noch 25 Arbeitnehmer beschäftigte. Ein Betriebsrat war nicht gebildet. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens legte der Insolvenzverwalter den Betrieb still und kündigte innerhalb von 30 Tagen mindestens 10 Arbeitnehmern, darunter dem Kläger, ohne zuvor eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG erstattet zu haben. Der Insolvenzverwalter war der Auffassung, einer Anzeige habe es nicht bedurft, weil am Stichtag aufgrund von Aufhebungsverträgen und Eigenkündigungen weniger als 21 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen seien. Das Landesarbeitsgericht hat die Kündigung aufgrund der fehlenden Massenentlassungsanzeige für unwirksam gehalten und der Kündigungsschutzklage stattgegeben.

Das BAG stimmt dem Landesarbeitsgericht dem Grunde nach zwar zu. Eine Massenentlassungsanzeige hätte erstattet werden müssen. Allerdings setzte es das Verfahren aus, weil das BAG es jedenfalls für möglich hält, dass das bisherige Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren durch den EuGH gekippt werden wird.

Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren

Bislang war das BAG – obwohl dies weder in die §§ 17 ff. KSchG noch die Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG – MERL) noch der EuGH ausdrücklich verlangen – stets der Ansicht, dass ein Verstoß gegen die in § 17 KSchG normierten Pflichten, insbesondere die Pflicht zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit oder bei der Konsultation des Betriebsrats, zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führe. Die Vorschriften seien allesamt als Verbotsgesetzes im Sinne des § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu verstehen, sodass das zugrundeliegende Rechtsgeschäft (die Kündigung) unwirksam sei.

Vorabentscheidungsersuch an den EuGH vom Januar 2022

Diese – seine eigene – Auffassung hat das BAG mit Beschluss vom 27. Januar 2022 (6 AZR 155/21 (A)) erstmals in Teilen in Zweifel gezogen. Dort ging es um einen Verstoß gegen die Pflicht, die Agentur für Arbeit über die Beteiligung des Betriebsrates zu informieren (§ 17 Abs. 3 KSchG).

Das BAG hat dort den EuGH um eine Vorabentscheidung ersucht. Konkret will das BAG wissen, welchen Zweck die auf Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL zurückgehende Verpflichtung verfolgt, die Agentur für Arbeit über die Beteiligung des Betriebsrates im Massenentlassungsanzeigeverfahren zu informieren. Nur aus diesem Zweck könne eine Schlussfolgerung für die angemessene Sanktion gezogen werden.

Schlussanträge des Generalanwaltes

Dieses Vorabentscheidungsersuchen hat – für sich genommen – noch keinen Anlass für den BAG gegeben, das vorliegende Verfahren (und drei weitere Verfahren, in denen Fehler im Massenentlassungsverfahren geltend gemacht werden) auszusetzen, da es um unterschiedliche Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren ging.

Zu der Aussetzung bewegt haben das BAG allerdings die Erwägungen des Generalanwalts in seinen am 30. März 2023 zum Vorabentscheidungsersuchen verkündeten Schlussanträgen. In diesen hatte der Generalanwalt ausgeführt, dass die Zwecke, welche die Verpflichtung zur Mitteilung über die Konsultation mit dem Betriebsrat und die Verpflichtung zur Massenentlassungsanzeige verfolgen, ähnlich sind. Ziel beider Verpflichtungen sei es, der Behörde zu ermöglichen, die Folgen der Entlassungen zu bewerten und geeignete Maßnahmen auszuarbeiten. Jedenfalls die (zeitlich frühere) Verpflichtung zur Mitteilung über das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat habe allein kollektiven Charakter und schütze die Arbeitnehmer nicht individuell.

Beschluss zur Aussetzung der Verfahren

Das BAG hat sich angesichts der Tatsache, dass den Erwägungen des Generalanwaltes durchaus Argumente entnommen werden können, die dafürsprechen, dass das Sanktionssystem jedenfalls für Verstöße gegen § 17 Abs. 3 KSchG neugestaltet werden muss, entschieden auch die Verfahren auszusetzen, die sich mit den Rechtsfolgen von Verstößen gegen § 17 Abs. 1 KSchG beschäftigen.

Es bleibt allerdings abzuwarten, (1.) ob der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwaltes der Sache nach folgen wird und (2.) damit das gesamte Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren auf der Kippe steht oder ggf. nur für solche Fehler, die das Konsultationsverfahren betreffen.

Praxishinweise:

  • Es bleibt für Arbeitgeber und Insolvenzverwalter bei größeren Entlassungen essenziell, die Vorgaben der §§ 17 ff. KSchG einzuhalten.
  • Es wäre jedoch zu wünschen, dass das Sanktionssystem in Zukunft differenzierter ausgestaltet wird und nicht jeder (Bagatell-)Verstoß zur Unwirksamkeit der Kündigungen – mit enormen Kostenrisiken, die weitere Arbeitsplätze kosten können – führt.
  • Dass dabei auch die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 1 KSchG, wenn der Arbeitgeber gar keine Massenentlassungsanzeige erstattet, angerührt wird, ist allerdings nicht zwingend. Es lassen sich vielmehr gute Argumente dafür finden, dass jedenfalls diese Pflicht individualschützenden Charakter hat und daher ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB ist und bleibt.

Entscheidungen:

  • BAG, 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22 (A)
  • BAG, 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21 (A)