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Neues zum Massenentlassungsverfahren: EuGH verneint Individualschutz der Übermittlung der Betriebsratsmitteilung an die Agentur für Arbeit

Nachdem das BAG den EuGH zu der Frage des Zwecks der Übermittlung der Betriebsratsmitteilung an die Agentur für Arbeit im Massenentlassungsanzeigeverfahren Anfang 2022 konsultiert hat und weitere Verfahren, die sich mit den Rechtsfolgen von Verstößen gegen § 17 Abs. 1 KSchG beschäftigen, bis zur Antwort des EuGH kürzlich aussetzte (wir berichteten BAG setzt Verfahren über Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren aus: Steht das Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren vor einer grundlegenden Wende?), hat der EuGH sich nun zur Vorlagefrage des BAG positioniert. Dabei schwächt der EuGH die Rechte der Arbeitnehmer, indem es der Übermittlung der Betriebsratsmitteilung an die Agentur für Arbeit einen Individualschutz abspricht. Verstöße gegen die Vorschriften des § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG bzw. Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL dürften künftig nicht die Unwirksamkeit der Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung zur Folge haben. Der EuGH äußert sich in dem Verfahren aber nicht zu der Frage, die nach den Schlussanträgen des Generalanwalts Pikamäe in diesem Vorlageverfahren aufkam und für „Aufregung“ in der Praxis sorgte, ob aus Verstößen gegen die MERL grundsätzlich nicht die Unwirksamkeit der Kündigung folge. Es ist damit zu rechnen, dass das BAG diese Frage nun für Verstöße gegen § 17 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG explizit dem EuGH vorlegt.

In dem Fall, den das BAG dem EuGH vorgelegt hatte (BAG, 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21), hatte der Arbeitgeber (bzw. der Insolvenzverwalter) gemäß § 17 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) den Betriebsrat über die geplante Massenentlassung unterrichtet und sich mit diesem abgestimmt. Entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG übermittelte der Arbeitgeber allerdings keine Abschrift über diese Konsultation des Betriebsrates an die Agentur für Arbeit, sondern zeigte später lediglich die geplante Massenentlassung an.

Das BAG vertrat bislang, dass jeder Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren zur Unwirksamkeit der Kündigung führe, obwohl dies weder in den §§ 17 ff. KSchG noch die Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG – MERL) bestimmt ist, noch der EuGH dies ausdrücklich verlangte.

Hieran hegte der vorlegende Senat nunmehr Zweifel und legte dem EuGH die Frage vor, welchen Zweck Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL, auf dem § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG beruht, verfolge. Nur wenn diese Verpflichtung, die Agentur für Arbeit frühzeitig über die Konsultation mit dem Betriebsrat zu informieren, zumindest auch Individualschutz für die Arbeitnehmer bieten soll, sei es gerechtfertigt einen Verstoß hiergegen mit der Unwirksamkeit der Kündigung zu sanktionieren.

EuGH verneint den individualschützenden Charakter

Nach der nun vorliegenden Entscheidung des EuGH (EuGH, 13. Juli 2023 – C‑134/22) hat diese Verpflichtung allein kollektiven Charakter und bezweckt keinen Individualschutz der Arbeitnehmer. Die frühzeitige Übermittlung der Unterrichtung ermögliche es der Agentur für Arbeit nur, sich über die Gründe der geplanten Entlassung, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, sowie die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer einen Überblick zu verschaffen. Die Behörde soll in diesem Zeitpunkt nur die Massenentlassungen allgemein betrachten und sich nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen.

Dieses Ergebnis sieht der EuGH auch durch den Hauptzweck der MERL bestätigt, der darin liege, die Massenentlassung mit der Arbeitnehmervertretung zu konsultieren und die zuständige Behörde zu unterrichten.

Entscheidung beschränkt sich auf die Information über die Konsultation des Betriebsrates

Die Entscheidung des EuGH beschränkt sich allerdings inhaltlich auf die Verpflichtung, die Behörde von der Unterrichtung des Betriebsrats in Kenntnis zu setzen (§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG bzw. Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL).

Das BAG hatte im Mai 2023 auch Verfahren ausgesetzt und auf die Antwort des EuGH gewartet, die sich mit der Verpflichtung der Massenentlassungsanzeige aus Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 MERL bzw. § 17 Abs. 1 KSchG befassen (BAG, 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22 (A)). Grund war, dass die Schlussanträge des Generalanwaltes nahelegten, dass die Verpflichtung zur Mitteilung über die Konsultation mit dem Betriebsrat und die Verpflichtung zur Massenentlassungsanzeige ähnliche Zwecke verfolgten (wir berichteten BAG setzt Verfahren über Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren aus: Steht das Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren vor einer grundlegenden Wende? – Wittek Partners).

Hierzu äußerte der EuGH sich in dieser Entscheidung im Ergebnis aber nicht. Einige Argumente des EuGH zur Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL passen ebenso auf Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 MERL. Andere Argumente sind wiederum nicht übertragbar.

Es ist daher zu hoffen und damit zu rechnen, dass das BAG noch weitere Verfahren dem EuGH vorlegen wird, um das Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren grundsätzlich zu überprüfen und auf europarechtlich sichere Füße zu stellen.

Praxishinweise:

  • Nur für die Anzeige der Unterrichtung des Betriebsrates bei der Agentur für Arbeit kann bislang für Arbeitgeber und Insolvenzverwalter Entwarnung gegeben werden. Fehler hierbei dürften nicht (mehr) die Unwirksamkeit der späteren Kündigungen bedeuten.
  • Nichtsdestotrotz sollten Arbeitgeber und Insolvenzverwalter Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren insgesamt vermeiden, um eine Umstrukturierung oder Betriebsschließung rechtssicher umzusetzen.
  • Es bliebt die weitere Entwicklung zu diesem Thema im Auge zu behalten, da dies nicht die letzte Entscheidung des EuGH zum Schutzzweck des Massenentlassungsanzeigeverfahrens und den Rechtsfolgen von Verstößen hierbei bleiben wird.

Entscheidungen:

  • EuGH, Urteil vom 13. Juli 2023 – C‑134/22
  • BAG, 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21
  • BAG, 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22 (A)