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Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Zusammenhang mit Kündigung

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) kann die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer am Tag seiner Kündigung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt, insbesondere dann den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen und das LAG Schleswig-Holstein haben sich kürzlich mit ähnlichen Fällen befasst.

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bzw. seit dem 1. Januar 2023 die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt gemäß § 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) soll die Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers belegen. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist hoch. Hält der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dennoch für arbeitsfähig, muss er Tatsachen vortragen, die den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern.

Diese Tatsachen können einerseits an Verhaltensweisen des Arbeitnehmers anknüpfen. So kann die Androhung der Arbeitsunfähigkeit wegen Versagung von Urlaub den Beweiswert erschüttern. Auch wenn der Arbeitnehmer während der bescheinigten Dauer nachweislich Tätigkeiten nachgeht, die mit der Arbeitsunfähigkeit nicht in Einklang zu bringen sind, kann dies den Beweiswert erschüttern.

Außerdem können die Tatsachen, die den Beweiswert erschüttern aus der Bescheinigung selbst bzw. aus den Umständen der Krankmeldung hervorgehen. Derartige Tatsachen nennt – in anderem Zusammenhang – § 275 Abs. 1a Sozialgesetzbuch V (SGB V) beispielhaft: Zweifel bestehen bei auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer bescheinigter Arbeitsunfähigkeit oder wenn der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder wenn die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.

Das BAG hat bereits 2021 entschieden (BAG, Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21), dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis (selbst) kündigt, am Tag der Kündigung vorlegt, insbesondere dann erschüttert sein kann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.

Auch mehrere Bescheinigungen, die den Zeitraum der Kündigungsfrist abdecken, können Zweifel begründen

In dem vom LAG Schleswig-Holstein entschiedenen Fall (2. Mai 2023 – 2 Sa 203/22) hatte die Arbeitnehmerin ein Kündigungsschreiben, am 5. Mai 2022 geschrieben und am 11. Mai 2022 bei der Arbeitgeberin abgegeben. Die Kündigungsfrist lief bis zum 15. Juni 2022. In der Zeit vom 5. Mai 2022 bis zum 15. Juni 2022 war die Arbeitnehmerin mit fünf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist krankgeschrieben.

Das LAG Schleswig-Holstein entschied, dass auch die Tatsache, dass die Kündigungsfrist nicht durch eine, sondern mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abgedeckt war, nichts an der Übertragbarkeit der Rechtsprechung des BAG ändert. Der Beweiswert aller Bescheinigungen, die den Zeitraum der Kündigungsfrist abdecken, kann durch den Zusammenhang zur Kündigung erschüttert sein.

Inhalt des Kündigungsschreibens des Arbeitnehmers kann berücksichtigt werden

Auch die Tatsache, dass das Kündigungsschreiben im streitigen Fall erst sechs Tage später abgeben wurde, spielte keine Rolle. Hinzu kam nämlich, dass in dem Kündigungsschreiben Urlaub vom 1. Juni 2022 bis zum Ablauf der Kündigungsfrist beantragt wurde, die Arbeitnehmerin gleichzeitig (verfasst am 5. Mai 2022) aber die Zusendung der Kündigungsbestätigung, der Arbeitspapiere sowie eines qualifizierten Arbeitszeugnisses an ihre Privatadresse verlangte. Das Gericht verstand die Kündigung so, dass die Arbeitnehmerin sich schon bei Verfassen des Schreibens bewusst war, dass Sie nicht wieder in den Betrieb zurückkommen würde – obwohl sie Urlaub nur für einen Teil der Kündigungsfrist beantragte und der Antrag noch nicht genehmigt war. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen war somit erschüttert.

Worum ging es im Fall des LAG Niedersachsen?

Im Fall, den das LAG Niedersachsen (8. März 2023 – 8 Sa 859/22) zu entscheiden hatte, ging es nicht um eine Kündigung des Arbeitnehmers, sondern um eine Kündigung des Arbeitgebers. Außerdem legte der Arbeitnehmer – ebenso wie im Fall des LAG Schleswig-Holstein – mehrfach hintereinander Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, da die Kündigungsfrist deutlich länger war als im Fall des BAG. Der Arbeitnehmer legte die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung außerdem unmittelbar vor dem Zugang der Kündigungserklärung vor. Allerdings war der Arbeitnehmer unmittelbar nach Ablauf der Kündigungsfrist gesundet und nahm am darauffolgenden Tag eine Beschäftigung bei seinem neuen Arbeitgeber auf.

Bei der Kündigung durch den Arbeitgeber kommt es auf den zeitlichen Zusammenhang an

Das LAG Niedersachsen bestätigte – völlig zu Recht – zunächst im Grundsatz die Rechtsprechung des BAG auch für die Kündigung des Arbeitgebers. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung könne grundsätzlich auch dadurch erschüttert werden, dass der Arbeitnehmer sich im Falle des Erhalts einer arbeitgeberseitigen Kündigung „postwendend“ krankmeldet bzw. eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreicht. Das gelte insbesondere dann, wenn lückenlos der gesamte Zeitraum der Kündigungsfrist – auch durch mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – abgedeckt wird.

Im konkreten Fall entschied das LAG Niedersachsen allerdings anders. Es läge gerade kein vergleichbarer Zusammenhang zwischen der Kündigung und der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Entscheidend war in diesem Fall, dass die erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits vor Erhalt der Kündigung des Arbeitgebers ausgestellt und dem Arbeitgeber vorgelegt wurde. Allein die Tatsache, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen die Kündigungsfrist genau abdeckten und der Arbeitnehmer am darauffolgenden Tag eine neue Beschäftigung antrat, genügten „(noch) nicht“, um den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.

Praxishinweise:

  • Kündigt der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis und meldet sich in zeitlich engem Zusammenhang für die Laufzeit der Kündigungsfrist krank, so kann der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich erschüttert sein. Dem Arbeitnehmer wird es in aller Regel zumutbar sein, weitere Umstände vorzutragen (bspw. den Arzt von der Schweigepflicht entbinden), um zu beweisen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt ist.
  • Arbeitgeber, die planen einen Arbeitnehmer zu entlassen, sollten die Absicht nicht vor einer formellen Kündigung mitteilen. Andernfalls kann der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die der Arbeitnehmer noch vor Erhalt der Kündigung vorlegt, wohl nicht ohne hinzutreten weiterer Verdachtsmomente (zum Beispiel vorangegangene Aufhebungsvertragsverhandlungen mit in Aussicht gestellter Kündigung) erschüttert werden.
  • Es bleibt abzuwarten, wie das BAG die Entscheidung des LAG Niedersachsen in seine Rechtsprechung zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einbetten wird. Die Revision ist unter dem Aktenzeichen 5 AZR 137/23 anhängig.

Entscheidungen:

  • BAG, Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21
  • LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom Mai 2023 – 2 Sa 203/22
  • LAG Niedersachsen, Urteil vom 8. März 2023 – 8 Sa 859/22
  • BAG, 5 AZR 137/23, anhängig