Kern der Entscheidung ist die Klärung der Frage, ob die privatautonome, individuelle Verhandlung die Vermutung der Benachteiligung wegen des Geschlechts bei unterschiedlichem Entgelt von Männern und Frauen widerlegen kann. Die Entscheidung des BAG hierzu war auf breite Zustimmung gestoßen. Auch die nun vorliegende Begründung der Entscheidung, überzeugt in diesem Punkt.
Das BAG begründet die Entscheidung mit der effektiven Umsetzbarkeit des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Frauen und Männer i.S.v. Art. 157 Abs. 1 AEUV, Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54/EG sowie i.S.v. § 3 Abs. 1, § 7 EntgTranspG. Sähe man die Einigung auf eine höhere Vergütung als Widerlegung der Vermutung der Benachteiligung an, „könnte sich der Arbeitgeber nur allzu leicht der Beachtung des Grundsatzes der geschlechtsbezogenen Entgeltgleichheit entziehen“ (Rn. 57).
Dies untermauert das BAG mit einfacher Logik. Die Vereinbarung eines höheren Entgelts ist grade der Umstand, der die Vermutung der Benachteiligung nach § 22 AGG begründet. „Es liegt auf der Hand, dass mit demselben Umstand [der die Vermutung begründet] die Vermutung der geschlechtsbezogenen Entgeltbenachteiligung nicht widerlegt werden kann“ (Rn. 57).
Potentielle Rechtfertigung bei knapper Lage am Arbeitsmarkt
Das BAG öffnet aber die Tür dafür, bei Knappheit am Arbeitsmarkt, im Einzelfall höhere Gehälter zu zahlen, um eine offene Stelle mit einer geeigneten Arbeitskraft zu besetzen (Rn. 51). Allerdings müsse der Arbeitgeber hierfür darlegen und beweisen, dass für die neu zu besetzende Stelle eine Knappheit am Arbeitsmarkt bestand und es keine ebenso gut geeigneten Bewerber*innen gab, die bereit gewesen wären, die Stelle zu der üblichen Vergütung anzutreten (Rn. 52). Dies war im Fall, den das BAG zu entscheiden hatte, jedoch nicht geschehen.
Gesonderte Betrachtung aller Entgeltpositionen
Erschwert werden die Gehaltsverhandlungen wohl dadurch, dass verschiedene Entgeltbestandteile nicht „gegeneinander aufgewogen“ werden können, sondern jeder einzelne Gehaltbestandteil gesondert betrachtet werden muss. Schon gar nicht sollen daher andere Arbeitsbedingungen die Ungleichbehandlung „aufwiegen“ können (Rn. 65). Die Klägerin hatte im vorliegenden Fall eine Sonderurlaubsvereinbarung mit dem Arbeitgeber geschlossen. Diese konnte die Vermutung der Benachteiligung wegen des Geschlechts nicht widerlegen. Dies folge bereits daraus, dass die Klägerin keine Kenntnis von dem Verhandlungsergebnis ihres Kollegen hatte und deshalb etwaige Wünsche nicht sachgerecht artikulieren konnte (Rn. 58). Auch hier setzt das BAG also auf transparente und klare Kommunikation der Gehälter und Benefits, ganz im Sinne der Entgelttransparenz.
Praxishinweise:
- Bei Problemen eine Stelle zu besetzen, werden Arbeitgeber wohl auch in Zukunft im Einzelfall höhere Gehälter anbieten können. Jedoch sollte in diesem Fall genau dokumentiert werden, (i) dass es Schwierigkeiten bei der Besetzung der Stelle gab und, (ii) dass es keine geeigneten Bewerber*innen gab, die bereit waren zum üblichen Gehalt die Stelle anzutreten.
- Will der Arbeitgeber künftig ein niedrigeres Gehalt gegen andere Arbeitsbedingungen – wie bspw. mehr Urlaubstage – aufwiegen, wird es wohl entscheidend darauf ankommen, ob allen Bewerbern dieselben Optionen gegeben werden und diese auch transparent kommuniziert werden, um Grundlage einer informierten Entscheidung der Arbeitnehmer*innen zu sein. Wünschenswert wäre, wenn das BAG es bspw. billigt, allen Bewerbern die Wahl zu geben entweder ein höheres Gehalt oder entsprechend mehr Urlaub zu erhalten.
Entscheidung:
- BAG, Urteil vom 16. Februar 2023 – 8 AZR 450/21