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Jahresrückblick 2022 – Teil 2: Insolvenzarbeitsrecht

Im Jahresrückblick 2022 stellen wir in sechs Teilen die Themen vor, die in ausgewählten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte im Jahr 2022 eine wichtige Rolle gespielt haben, und erläutern, welche Auswirkungen diese Entscheidungen für die Praxis haben. Im zweiten Teil unseres Jahresrückblicks geht es um das Thema Insolvenzarbeitsrecht.

Im Frühjahr 2022 beschäftigte sich das BAG intensiv mit dem Insolvenzarbeitsrecht. Das Zusammenspiel von Insolvenzrecht und Arbeitsrecht bietet immer wieder Anlass für Diskussionen. Vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung (InsO) galt das Arbeitsrecht fast uneingeschränkt auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Die InsO enthält heute einige abweichende Vorschriften, insbesondere in §§ 120 ff. InsO. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens lässt den Bestand des Arbeitsverhältnisses zwar grundsätzlich unberührt (§ 108 Abs. 1 InsO). Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers, tritt jedoch der Insolvenzverwalter in sämtliche Rechte und Pflichten des Arbeitgebers aus den Arbeitsverhältnissen ein. Am 25. Mai 2022 sind zwei wichtige Urteile in Erfurt gefällt worden, die spannende Fragen in diesem Zusammenhang beantworten.

Kein Wiedereinstellungsanspruch in der Insolvenz

Das erste Urteil behandelt den sog. Wiedereinstellungsanspruch im Zusammenhang mit einer Insolvenz. Der Wiedereinstellungsanspruch ist gesetzlich nicht geregelt und richterrechtlich geprägt. Er setzt voraus, dass das Arbeitsverhältnis beendet wurde, der Grund für die Beendigung jedoch nachträglich wegfällt und dem Arbeitgeber die Wiedereinstellung zumutbar ist. Beispielsweise kann ein Wiedereinstellungsanspruch bestehen, wenn eine Verdachtskündigung (wirksam) ausgesprochen wurde, der Verdacht sich im Nachhinein allerdings nicht bestätigt (BAG, Urteil vom 20. August 1997 – 2 AZR 620/96), oder bei einer krankheitsbedingten Kündigung, wenn der Arbeitnehmer bspw. durch eine zwischenzeitliche Operation genesen ist (BAG, Urteil vom 27. Juni 2001 – 7 AZR 662/99). Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Wiedereinstellungsanspruch einen Kontrahierungszwang begründet, der dem grundsätzlich privatautonom gestalteten Zivilrecht eher fremd ist.

Besonders relevant im Zusammenhang mit einer möglichen Insolvenz des Arbeitgebers ist der Wiedereinstellungsanspruch nach einer betriebsbedingten Kündigung. Soll aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage beispielsweise ein Betrieb stillgelegt werden und findet sich im Nachgang zur Kündigung doch ein Käufer für den Betrieb, kann sich die Frage der Wiedereinstellung stellen. Hier hat die Rechtsprechung mehrfach entschieden, dass ein Wiedereinstellungsanspruch auch im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang gegen den Betriebserwerber bestehen kann (z.B. BAG, Urteil vom 15. Dezember 2011 − 8 AZR 197/11).

Im Fall, den das BAG nun zu entscheiden hatte, war das Arbeitsverhältnis durch des Arbeitgebers wegen Betriebsstilllegung betriebsbedingt ordentlich gekündigt worden. Der Arbeitnehmer hatte hiergegen keine Kündigungsschutzklage erhoben, sodass die Kündigung wirksam wurde. Noch während der Kündigungsfrist ging der Betrieb allerdings auf eine neue Gesellschaft über. Vor Ablauf der Kündigungsfrist hatte der Arbeitnehmer daraufhin auf Wiedereinstellung gegen den neuen Betriebsinhaber geklagt. Das Arbeitsgericht hatte der Klage stattgegeben. Während der Berufung wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des neuen Betriebsinhabers eröffnet.

Das BAG entschied mit Urteil vom 25. Mai 2022 (Az.: 6 AZR 224/21), dass der Arbeitnehmer jedenfalls in der Insolvenz keinen Wiedereinstellungsanspruch habe. Dies gelte nicht nur, wenn die Kündigung durch den Insolvenzverwalter ausgesprochen wurde, sondern auch bei Kündigung durch den später insolventen Arbeitgeber bzw. – wie hier – Betriebsveräußerer.

Der Kontrahierungszwang des Wiedereinstellungsanspruchs sei mit der gesetzlichen Wertung des § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht zu vereinbaren. Hiernach sollen bloß die Dauerschuldverhältnisse fortbestehen, die im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bestanden. Das Oktroyieren von weiteren Schuldverhältnissen und damit Masseverbindlichkeiten sei mit den Wertungen des Insolvenzrechts unvereinbar.

Mindestlohn nicht gegen Insolvenzanfechtung gesichert

Nimmt der Insolvenzschuldner oder der vorläufige Insolvenzverwalter vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Rechtshandlungen vor, die die Insolvenzmasse beschränken oder auf andere Weise die Massegläubiger objektiv benachteiligen, kann der Insolvenzverwalter diese nach den Vorschriften über die Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO) beseitigen und so die Insolvenzmasse erweitern.

Im Fall, der vor dem BAG landete, stritt die Arbeitnehmerin mit dem Insolvenzverwalter über die (Höhe der) Anfechtung von gezahltem Arbeitsentgelt. Die Arbeitnehmerin hatte zwei Monate vor der Eröffnung der Insolvenzverfahrens, zu einem Zeitpunkt, als der Arbeitgeber bereits zahlungsunfähig war, ihr Monatsgehalt von einem Konto der Konzernmutter des Arbeitgebers erhalten. Der Insolvenzverwalter hatte diese Rechtshandlung angefochten und verlangte Rückzahlung des Gehaltes in voller Höhe. Die Arbeitnehmerin verweigerte die Rückzahlung zumindest in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns.

Das BAG gab dem Insolvenzverwalter mit Urteil vom 25. Mai 2022 (Az.: 6 AZR 497/21) recht. Der Mindestlohn ist nicht vor der Insolvenzanfechtung gesichert. Der Gesetzgeber habe den Mindestlohn nicht vor der Insolvenzanfechtung geschützt. Dem stünden auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen, da das Existenzminimum auf andere Weise, insbesondere durch die Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung (ZPO) und das Sozialrecht, gewährleistet sei.

Praxishinweise:

  • Die Arbeit der Insolvenzverwalter*innen wird durch das erste Urteil des BAG merklich erleichtert. Sie müssen wirksam gekündigte Arbeitsverhältnisse nicht besonders berücksichtigen, da ein Wiedereinstellungsanspruch im Rahmen der Insolvenz nicht in Betracht kommt.
  • Wird vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens trotz Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers noch Gehalt an die Arbeitnehmer*innen gezahlt, unterliegen diese Zahlungen der Insolvenzanfechtung in voller Höhe. Auch der gezahlte Mindestlohn kann angefochten und – im Rahmen der Pfändungsschutzbestimmungen der ZPO – zurückverlangt werden.

Entscheidungen:

  • BAG, Urteil vom 25. Mai 2022 – 6 AZR 224/21
  • BAG, Urteil vom 25. Mai 2022 – 6 AZR 497/21