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Jahresrückblick 2022 – Teil 5: Kriterien für die Sozialauswahl

Im Jahresrückblick 2022 stellen wir in sechs Teilen die Themen vor, die in ausgewählten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte im Jahr 2022 eine wichtige Rolle gespielt haben, und erläutern, welche Auswirkungen diese Entscheidungen für die Praxis haben. Im fünften Teil unseres Jahresrückblicks geht es um das Thema Sozialauswahl.

Will der Arbeitgeber ein oder mehrere Arbeitsverhältnisse wegen Wegfalls des Beschäftigungsbedarfs ordentlich betriebsbedingt kündigen, muss vorher gemäß § 1 Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zwischen allen für die Kündigung in Betracht kommenden Arbeitnehmer*innen eine Sozialauswahl durchgeführt werden. Im Rahmen der Sozialauswahl sind folgende Kriterien zu berücksichtigen: die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, etwaige Unterhaltspflichten und eine Schwerbehinderung. Diese Aufzählung im Gesetz ist nach Ansicht des BAG abschließend. Allein bei der Gewichtung der einzelnen Kriterien kommt dem Arbeitgeber ein gewisser Gestaltungsspielraum zu (BAG, Urteil vom 29. Januar 2015 – 2 AZR 164/14). Besteht im Betrieb ein Betriebsrat können der Arbeitgeber und der Betriebsrat im Rahmen des Interessenausgleichs nach § 1 Abs. 5 KSchG eine Namensliste zur Umsetzung der Sozialauswahl vereinbaren. In diesem Fall kann die Sozialauswahl durch die Gerichte nur auf grobe Fehlerhaftigkeit hin überprüft werden (§ 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG).

Die Rentennähe darf bei der Sozialauswahl zulasten der Arbeitnehmer*innen berücksichtigt werden

Die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Sozialauswahlkriterien sind grundsätzlich zugunsten der Arbeitnehmer*innen zu berücksichtigen. Höheres Alter, längere Betriebszugehörigkeit, höhere Unterhaltspflichten und eine Schwerbehinderung erhöhen grundsätzlich die soziale Schutzbedürftigkeit. Kritisiert wird hierbei vielfach die Überbetonung eines höheren Lebensalters dadurch, dass auch die Betriebszugehörigkeit hiermit oftmals korreliert.

Mit Urteil vom 8. Dezember 2022 (Az.: 6 AZR 31/22) hat das BAG nun festgestellt, dass das Lebensalter durchaus auch zulasten der Arbeitnehmer*innen in die Sozialauswahl einfließen kann, sofern eine besondere Rentennähe vorliege.

In dem Fall schloss der Insolvenzverwalter, nachdem über das Vermögen der Arbeitgeberin das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der unter anderem die Kündigung einer Arbeitnehmerin vorsah, die fünf Monate nach dem avisierten Beendigungsdatum eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte (§§ 38, 236b SGB VI) hätte beziehen können. Dies nahmen Insolvenzverwalter und Betriebsrat zum Anlass, das Alter der Arbeitnehmerin in der Sozialauswahl ausnahmsweise zu ihrem Nachteil zu berücksichtigen. Sie falle in der Sozialauswahl aufgrund der Rentennähe hinter alle vergleichbaren Arbeitnehmer*innen zurück. Hiergegen richtete sich die Kündigungsschutzklage der Arbeitnehmerin. Nach Abschluss eines weiteren Interessenausgleichs wurde der Arbeitnehmerin erneut gekündigt. Die Möglichkeit zum Renteneintritt bestand zu diesem Zeitpunkt dann schon zwei Monate nach dem avisierten Beendigungsdatum. Auch gegen diese Kündigung wehrte sich die Arbeitnehmerin mit einer Kündigungsschutzklage.

Das BAG hielt die erste Kündigung für unwirksam, die zweite Kündigung dagegen für wirksam. Das Lebensalter erhöhe zwar zunächst die soziale Schutzbedürftigkeit. Ab einem Zeitpunkt von zwei Jahren bis zum Renteneintrittszeitpunkt sinke diese allerdings wieder ab. Das Lebensalter sei als Kriterium insofern ambivalent. Die erste Kündigung sei dennoch unwirksam, weil trotz des rentennahen Alters die anderen Sozialauswahlkriterien Berücksichtigung finden müssten, was hier nicht geschehen sei.

Praxishinweise:

  • Die Entscheidung schafft Rechtssicherheit bei der Berücksichtigung der Rentennähe in der Sozialauswahl. Das Alter erhöht bei der Sozialauswahl grundsätzlich die soziale Schutzwürdigkeit. Ab einem Zeitraum von zwei Jahren vor der Möglichkeit einer abschlagsfreien Rente darf das Alter dagegen auch zulasten der Arbeitnehmer*innen berücksichtigt werden. Dabei dürfen allerdings die übrigen Kriterien der Sozialauswahl nicht vollständig vernachlässigt werden.
  • Die Grundsätze gelten auch für eine Rente für langjährig und besonders langjährig Versicherte. Eine Rente wegen einer Schwerbehinderung darf dagegen aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben nicht berücksichtigt werden.

Entscheidung:

  • BAG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 6 AZR 31/22 (bisher liegt nur die Pressemitteilung vor)