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Jahresrückblick 2022 – Teil 1: Die Massenentlassungsanzeige

Im Jahresrückblick 2022 stellen wir in sechs Teilen die Themen vor, die ausgewählten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte im Jahr 2022 eine wichtige Rolle gespielt haben, und erläutern, welche Auswirkungen diese Entscheidungen für die Praxis haben. Im ersten Teil unseres Jahresrückblicks geht es um das Thema Massenentlassungsanzeige.

Das Jahr 2022 begann in Erfurt mit einer Entscheidung des BAG zur Massenentlassungsanzeige. Plant ein Arbeitgeber in einem Betrieb mit in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmer*innen, mehr als fünf Arbeitnehmer*innen (die Anzahl steigt quasi-proportional, vgl. § 17 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz [KSchG]) innerhalb von 30 Kalendertagen zu entlassen, ist er verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten. Diese in § 17 KSchG normierte Pflicht geht auf die europäische Richtlinie 98/59/EG zurück. Hauptzweck der Massenentlassungsanzeige ist es, die Agentur für Arbeit auf größere Entlassungsmaßnahmen frühzeitig vorzubereiten, damit eine möglichst schnelle Wiedereingliederung der von der Massenentlassung Betroffenen in den Arbeitsmarkt gelingen kann. Unterlässt der Arbeitgeber bei einer Massenentlassung die entsprechende Anzeige, sind die ausgesprochenen Kündigungen unwirksam.

Folgen eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG? BAG legt Rechtsfrage dem EuGH vor

Das BAG beschäftigte nun die Frage der Rechtsfolge eines formalen Fehlers bei der Massenentlassungsanzeige.

Besteht in einem Betrieb ein Betriebsrat, ist dieser gemäß § 17 Abs. 2 KSchG ebenfalls über die Massenentlassung rechtzeitig zu unterrichten. Eine Abschrift dieser Mitteilung hat der Arbeitgeber gleichzeitig der Agentur für Arbeit zu übermitteln (§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG). Auch diese Verpflichtung geht auf die Massenentlassungsrichtlinie zurück.

Im Fall, den das BAG zu entscheiden hatte, war die Mitteilung an den Betriebsrat zwar erfolgt, jedoch wurde diese nicht zugleich auch an die Agentur für Arbeit übersendet. Ausdrücklich enthält weder das deutsche Recht noch die zugrunde liegende europäische Richtlinie eine Sanktion für das Ausbleiben dieser Übersendung. Das BAG fragte mit Beschluss vom 27. Januar 2022 (Az.: 6 AZR 155/21 (A)) den EuGH nach dem Zweck der zugrunde liegenden Richtlinienvorschrift. Diene diese (zumindest auch) dem Schutz der Arbeitnehmer*innen, so handle es sich bei § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG um ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB und die Kündigungen wären unwirksam. Dient die Vorschrift allein der Information der Agentur für Arbeit, käme das BAG wohl zu einem anderen Ergebnis.

Der EuGH hat die Anfrage des BAG noch nicht beantwortet. Es bleibt daher abzuwarten, ob in diesem Jahr eine Klärung der Frage ansteht.

Machtwort in Sachen „Soll-Angaben“

Ein Machtwort sprach das BAG dagegen in Sachen „Soll-Angaben“ der Massenentlassungsanzeige im Mai 2022. Die Massenentlassungsanzeige muss, um wirksam zu sein, einige Pflichtangaben enthalten (z.B. Namen des Arbeitgebers, Sitz und Art des Betriebes, Gründe für die Entlassungen, vgl. § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG). Weitere Angaben „sollen“ gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG gemacht werden (z.B. Geschlecht, Alter und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer*innen). Das Hessische Landesarbeitsgericht hatte mit Urteil vom 18. Juni 2021 (Az.: 14 Sa 1228/20) entschieden, dass auch das Unterlassen dieser „Soll-Angaben“ zu der Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen könne.

Dem tritt das BAG mit Urteil vom 19. Mai 2022 (Az.: 2 AZR 467/21) zurecht entgegen. Der Wortlaut („soll“) bringe den gesetzgeberischen Willen eindeutig zum Ausdruck. Hierüber dürften sich die Gerichte nicht hinwegsetzen. Auch europarechtlich sei vom EuGH geklärt, dass keine Pflicht zur Angabe der in § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG genannten Angaben bestehe. Eine Massenentlassungsanzeige ist somit nicht allein deshalb unwirksam, weil sie die Soll-Angaben nicht (vollständig) enthält.

Praxishinweise:

  • Sofern ein Betriebsrat im Betrieb besteht und eine Massenentlassung geplant ist, muss nicht nur an das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat gedacht werden. Zeitgleich muss die Betriebsratsmitteilung nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG an die Agentur für Arbeit geleitet werden. Andernfalls droht die Unwirksamkeit der Kündigung. Entwarnung kann hier bis zur endgültigen Klärung durch den EuGH (noch) nicht gegeben werden.
  • Entwarnung gibt es hingegen für die Nichteinhaltung der „Soll-Angaben“ aus § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG. Das BAG hat insoweit (wenig überraschend) klargestellt: „Soll“ heißt „Soll“ (und nicht „muss“). Die Angaben sollen, sofern möglich, gemacht werden. Werden sie nicht gemacht, führt dies nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

Entscheidungen:

  • BAG, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21 (A)
  • BAG, Urteil vom 19. Mai 2022 – 2 AZR 467/21