Du betrachtest gerade Jahresrückblick 2022 – Teil 4: Das Weisungsrecht

Jahresrückblick 2022 – Teil 4: Das Weisungsrecht

Im Jahresrückblick 2022 stellen wir in sechs Teilen die Themen vor, die in ausgewählten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte im Jahr 2022 eine wichtige Rolle gespielt haben, und erläutern, welche Auswirkungen diese Entscheidungen für die Praxis haben. Im vierten Teil unseres Jahresrückblicks geht es um das Thema Weisungsrecht.

Ein wesentlicher Kernbestand des Arbeitsverhältnisses ist das arbeitgeberseitige Weisungsrecht (auch Direktionsrecht genannt). Dies ist in § 106 Satz 1 GewO gesetzlich normiert. Danach kann der Arbeitgeber „Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.

Weisungsrecht umfasst grundsätzlich auch Versetzung ins Ausland

Im November letzten Jahres beschäftigte sich das BAG mit den Grenzen des Direktionsrechts bei Weisungen bezüglich des Arbeitsorts. In dem Fall war der Kläger, ein Berufspilot, am Flughafen Nürnberg stationiert. Als die Fluggesellschaft ihre Nürnberger Basis schloss, wurde der Kläger an die Basis in Bologna, Italien versetzt. Hiergegen wendete sich der Pilot vor dem Arbeitsgericht.

Das BAG hat mit Urteil vom 30. November 2022 (Az.: 5 AZR 336/21) entschieden, dass eine Versetzung grundsätzlich auch ins Ausland möglich sei. Das Weisungsrecht nach § 106 Satz 1 GewO sei nicht auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland beschränkt. Lege der Arbeitsvertrag keinen Arbeitsort ausdrücklich fest, sei grundsätzlich auch die Versetzung ins Ausland möglich. Hierbei sei allerdings die Grenze des billigen Ermessens zu wahren. Im vorliegenden Fall sprach für die Wirksamkeit der Weisung, dass der Standort in Nürnberg geschlossen werden sollte und die internationale Mobilität Wesensmerkmal der Pilotentätigkeit sei. Außerdem hatte sich der Arbeitgeber die unternehmensweite Versetzungsmöglichkeit im Arbeitsvertrag vorbehalten.

Kein Zugang einer Weisung außerhalb der Arbeitszeit

Das LAG Schleswig-Holstein hatte darüber zu entscheiden, ob eine per SMS erteilte Weisung auch in der Freizeit zugehen und wirksam werden kann.

In dem zugrunde liegenden Fall stritten die Parteien über die Gutschrift von Stunden auf dem Arbeitszeitkonto des Arbeitnehmers und die Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte. Der Arbeitnehmer war als Notfallsanitäter bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Als er am 6. April 2021 seinen Dienst beendete, war auf dem online einsehbaren Dienstplan für seinen nächsten Arbeitstag (den 8. April 2021) ein sog. „Springerdienst“ ab 7:30 Uhr eingetragen. Bei einem solchen melden sich die Notfallsanitäter*innen um 7:30 Uhr von zuhause aus und erfahren dann ihren Einsatzort. Am 7. April 2021, dem freien Tag des Arbeitnehmers, änderte die Arbeitgeberin den Schichtplan und wies dem Arbeitnehmer am nächsten Tag eine Rettungswagenschicht ab 6:00 Uhr zu. Die Änderung teilte sie dem Arbeitnehmer in einer SMS auf sein privates Handy mit, die dieser nach seiner Behauptung nicht wahrgenommen habe. Er tauchte nicht zur Schicht um 6:00 Uhr auf, sondern meldete sich um 7:30 Uhr von zuhause aus dienstbereit. Die Arbeitgeberin bewertete dies als unentschuldigtes Fehlen, rechnete den Tag nicht auf das Arbeitszeitkonto an und mahnte den Arbeitnehmer ab.

Das LAG gab dem Arbeitnehmer mit Urteil vom 27. September 2022 (Az.: 1 Sa 39 öD/22) recht. Die Weisung ist eine einseitige Willenserklärung, die mit Zugang wirksam wird. Eine Willenserklärung geht zu, wenn sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Der Arbeitgeber hat den Zugang der Weisung darzulegen und zu beweisen.

Die SMS sei zwar mit Erreichen des Handys des Arbeitnehmers in dessen Machtbereich gelangt. Die Arbeitgeberin könne aber billigerweise nicht damit rechnen, dass der Arbeitnehmer die Nachricht vor Beginn der nächsten Schicht wahrnimmt. Während der Freizeit habe der Arbeitnehmer ein Recht darauf nicht erreichbar zu sein. Das Lesen der beruflichen SMS stelle Arbeitszeit dar, zu der er in seiner Freizeit nicht verpflichtet sei. Zum Zeitpunkt des Zugangs (7:30 Uhr) war die Weisung (Dienstantritt um 6:00 Uhr) somit bereits überholt. Der Arbeitnehmer, der seine Arbeitsleistung angeboten hatte, versetzte damit die Arbeitgeberin in Annahmeverzug.

Das LAG hat die Revision zugelassen. Diese ist beim BAG unter dem Aktenzeichen 5 AZR 349/22 anhängig. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG der Argumentation des LAG folgen wird. Nebenbei könnte das BAG hier die Frage beantworten – die in der Literatur durchaus umstritten ist –, ob das bloße Lesen einer SMS als Arbeitszeit zu qualifizieren ist.

Praxishinweise:

  • Ist im Arbeitsvertrag der Arbeitsort nicht näher konkretisiert oder die Versetzung vorbehalten, beinhaltet § 106 Satz 1 GewO grundsätzlich die Möglichkeit – im Rahmen des billigen Ermessens –, Arbeitnehmer*innen ins Ausland zu versetzen.
  • Der zuständige fünfte Senat des BAG sieht hierin keinen Widerspruch zur Rechtsprechung des zweiten Senats, der für Kündigungsstreitigkeiten zuständig ist, wonach der Arbeitgeber im Rahmen seiner Weiterbeschäftigungsobliegenheit nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 lit. b, Satz 3 KSchG keine Betriebe außerhalb der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigen muss. Dennoch hat der fünfte Senat dem zweiten Senat mit dieser Entscheidung zur Reichweite des Weisungsrechts die Tür geöffnet, diese Rechtsprechung zum KSchG zu ändern, sodass Arbeitgeber durchaus im Einzelfall erwägen könnten, vor einer betriebsbedingten Kündigung wegen Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit, eine Versetzung an einen ausländischen Standort als milderes Mittel zu prüfen.
  • Wollen Arbeitgeber Dienstzeiten ändern, muss diese Änderung den Arbeitnehmer*innen noch während der Arbeitszeit mitgeteilt werden. Darauf, dass eine Weisung außerhalb der Arbeitszeit zugeht und damit wirksam wird, können sich Arbeitgeber nicht verlassen.
Entscheidungen:
  • BAG, Urteil vom 30. November 2022 – 5 AZR 336/21 (bisher liegt nur die Pressemitteilung vor)
  • LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27. September 2022 – 1 Sa 39 öD/22